Animails

 

Kleiner Lese-Impuls:

Das was Ihnen realitisch scheinen mag ist das Erfundene, das was Sie für eine Geschichte halten die Wirklichkeit

 

Wir schreiben das Jahr 2003.

Es ist ein heißer Sommer. Die Lücke, die eine vertrocknete Staude auf einem Balkon hinterlässt, ruft nach neuem Leben. Alsbald findet sich ein farbenfroher Neuling ein. Die Harmonie scheint wiederhergestellt.

Doch nicht für lange Dauer. Bald beleben ungeladene Gäste das Idyll:

Ameisen!

Zunächst kümmern sie die Hauptbewohnerin jenes lauschigen Platzes nicht.

‚Sind ja ein Teil von Natur’. An einem Morgen erinnert sie, dass Ameisen und Läuse in Symbiose leben. ‚Na ja, das betrachten wir mal’.

Und fasziniert sieht sie zu, wie immer entlang der gleichen Linie, ein Ameisenheer hinaufpilgert zu den Läusen.

Als der Blütenstengel eines Morgens statt grün schwarz ist, dämmert ihr, dass Symbiose wohl nicht heißt, dass jeder jeden nährt, und wie sie annahm, dafür auch welche ihr Leben lassen.

Wie auch immer diese Art von Colaboration im Fachjargon hieß: die Anzahl der Läuse wie die der Ameisen stieg in wohligem Einvernehmen an.

Fakt war, dass der eben noch farbenfrohe Neuling völlig ermattet und von den Läusen ausgesaugt ebenfalls sein Leben ließ.

Dies rief nicht gerade Begeisterung bei der Hauptbewohnerin hervor (nennen wir sie künftig HBW, schließlich ist dies eine wissenschaftliche Studie, und da sind Kürzel erlaubt).

Da HBW nach wie vor der Ansicht war, dass Ameisen ein Teil der Natur sind, lag es ihr fern, etwas gegen die Ameisen zu unternehmen.

So wenig wie HBW geahnt hatte, wie schnell sich durch die Ameisen die Läuse vermehren würden, so wenig hatte sie vermutet, dass sich die Ameisen über den Balkon hinaus auch in die anderen Lebensbereiche ausdehnen wollen würden.

Man sieht hier deutlich, dass die Gesetzmäßigkeiten von Ameisen eben nicht die sind, die unseren Vorstellungen entsprechen: Schon bald zog ein vergnügtes Volk über den Balkon in die Küche!

Naheliegend, denn dort erspürten sie treffsicher weitere Nahrungsquellen.

Anfangs war dies vor allem der Mülleimer, den HBW gewissenhaft nach jedem Krümelchen wieder zuband, da er mittlerweile von einem schwarzen Gewusel durchdrungen war.

 

So meinte sie, sie zurück Richtung Balkon bewegen zu können. Jedoch auch dies eine Illusion. Die gewitzten Ameisen eroberten schnell neue Nahrungsquellen, und ihr Er-finder-reichtum war dabei nicht zu überbieten.

Jeder Tropfen Saft, jeder angeschnittene Apfel war Verlockung pur, und so trieben sie zunächst das gründliche Wegpacken und Abwischen von HBW auf die Höchstform.

Nichtsahnend öffnete diese an einem Morgen ein Honigglas.

Da gut zugedreht, war es den Ameisen nicht möglich gewesen, bis ins Innerste des begehrenswerten Glases vorzudringen. Aber natürlich hatten sie alles was unterhalb des Deckels zu erhaschen war mitgenommen.

In der Millisekunde, in der der entsetzte Blick von HBW dies wahrnahm, waren sie natürlich schon vorwärtsgeschritten. So dass aus dem harmlosen Vorhaben eines Honigbrotes ein wildes Fluchen wurde. ‚Das habt ihr nun davon, von mir aus sollt ihr zu hunderten klebenbleiben’ – so dachte ‚unser Tierfreund’ im ersten Groll. Doch trotz ihrer Wut dauerten sie ihr, und so begannen aufwendige Rettungsmaßnahmen.

Natürlich war inzwischen selbst ein Abwasch zum Staatsakt geworden, da der Ameisenstaat gerade hier viele verwertbare Minikrümelchen fand, denn einer Ameise dient schließlich selbst das Allerkleinste.

 

Inzwischen war der Punkt gekommen, an dem die statistischen Termini zu erneuern waren. Wir sprechen nunmehr statt von HBM von MBW (Mitbewohner), da sich die Ameisen inzwischen zu den HBW ermächtigt hatten: Deutlich sichtbare schwarze Straßen durchkreuzten die Lebensräume von MBW, die bald keinen Schritt mehr tun konnte, ohne ihre anstrengenden Liebsten zu zertreten. Geschah dies, tat es ihr Leid, und da sie ja mit den Ameisen lebte, konnte sie bemerken, dass sofort ein Sanitäter oder ein Totenträger angeeilt kam, sich um den Betroffenen zu kümmern

Überhaupt waren sie sehr miteinander verwoben: Nie wären sie einfach aneinander vorbeimarschiert, die einen in die eine, die andern in die andere Richtung. Immer tauschten sie die neusten Nachrichten über einen ‚Bein-schlag’ aus, ob dies eine eben gesichtete Nahrungsquelle oder ein Verwundeter war. So nervend sie waren, so faszinierend blieben sie doch.

 

Einmal meinte MBW eine Lösung gefunden zu haben, all diesen Nöten ein Ende zu machen ohne die Chemokeule zu schwingen:

Die Schwelle, an dem die neuen HBW von ihrem Hauptquartier auf dem Balkon rein in die Wohnung wuselten war deutlich zu erkennen:

Eine Art kleines Loch diente ihnen als entrée.

 

Triumphierend schmierte MBW in Ermangelung eines Kittes so viel Zahnpasta wie nur möglich in dieses Loch.

Da nach einigen Minuten keine mehr erschienen, seufzte sie erleichtert auf.

Nun kehrte sie mit dem Besen die Hundertschaften aus ihren Räumen hinaus auf den Balkon, denn der, so war sie mit sich übereingekommen, dürfe ihnen als Lebensraum dienen.

Glücklich ging sie zur Arbeit, und kam mit der Vorfreude auf einen Abend ohne Gewusel und ohne Besuch am Hosenbein wieder heim.

Der Puls erstarrte ihr schier, als sie eine noch schwärzere Straße von Ameisen wahrnahm. Wie als wollten sie sagen: ‚Ätsch, Bätsch – wir sind die klügeren’.

Die Zahnpasta hatten sie wie Alles Wohlschmeckende  ebenfalls zu Futter verwandelt, so dass von dem Füllstoff nichts mehr über war.

 

Die Schmerzgrenze war nun auch bei MBW langsam aber sicher erreicht.

Da aber auch sie intelligent war – schließlich trifft sich immer Gleiches mit Gleichem – fragte sie sich, wozu all das diene. Zum einen dämmerte ihr, dass das etwas mit nicht gewahrten Grenzen zu tun habe. Gleichzeitig erkannte sie durch dieses nimmermüde Volk, dass sie in ihrem Leben dem nimmermüden Gewusel überdrüssig war, und ihr in ihrem Leben Entspannung und Ruhe wesentlich waren.

Stattdessen hatte sie unzählige HBW gewonnen, um die sie sich aufgrund ihrer Natur immer und überall kümmern musste. Selbst die Dusch wo es keinerlei verwertbare Nahrungskrümel gab belagerten sie, da sie dort Wasser fanden, und so wurde selbst dieses wohltuende Ritual zur Qual.

 

Es sei Ihnen, lieber Leser erlaubt, schallend zu lachen, aber noch sind wir nicht am eigentlichen Höhepunkt unserer Studie, die Ihnen beweisen wird, dass es bereits unmittelbarere Kommunikationswege als die e-mails gibt!

 

Nun denn. Selbst MBW war zu dem Entschluss gekommen, dass dies so weder witzig noch tolerabel sei, und so bemühte sie ein Gärtnerteam zu sich:

Jedes Pflanzgefäß sollte sorgsam von Pflanzen und Erde befreit werden, und mit beidem die derzeitigen HBW. So sprach sie zu ihnen:

‚Morgen kommen Menschen, die werden euch wegbringen. Ich sage euch das, damit ihr als Clan zusammenbleiben könnt, und nicht auseinandergerissen werdet. Am besten findet ihr euch alle auf dem Balkon ein’.  Da sie viel von ihnen gelernt hatte, und nach wie vor sehr mit ihnen verbunden war, fand sie diese Ansage zu nüchtern.

 

So nahm sie ein kleines Tellerchen, um darauf ein paar Tropfen Tannenwipfelhonig zu tropfen. Denn den hatten sie ratzeputz weggeschleckt, als ihr einmal welcher auf den Küchenboden getropft war.

Wie es die Fügung so wollte wurde aus dem Tropfen eine Spur, aus der Spur ein Herz, und schließlich setzte sie noch ein Danke und A-Dieu hinzu.

Gegen 22Uhr30 stellte sie das Tellerchen zusammen mit zwei Teelichtern auf den Boden der Terrasse und ging schlafen.

 

Am Morgen bevor die Gärtner kamen, waren nur noch vereinzelte Ameisen im Wohnbereich. ‚Die werden denken, sie habens mit einem hysterischen Weib zu tun, wenn die kommen und kaum eine Ameise ist zu finden.’

In diesen Gedanken ging sie auf den Balkon, um auch dort nochmals nach dem Rechten zu sehen.

Dort sah sie das Tellerchen: Unberührt stand es da, kein Tropfen war vom Teller geleckt, und die Teelichter brannten noch immer (nach mehr als 9 Stunden!). Erst war sie einfach nur irritiert. Bis sie begriff:

Dies ist die ani-mail der Ameisen an mich.

 

 

Die Abertausenden hatten sich allesamt um ihre Königin gesammelt und im Hauptnest eingefunden.

Von dort wurden sie behutsam in Säcke, und von dort in die Freiheit gebracht.

Und wenn sie nicht auf einem Balkon mit Ameisengift gelandet sind so leben sie noch heute.

 

Iris Noerpel-Schneider

 

© November 2020